Es ist bereits der dritte Abend, dass ich im Bett liege und höre, wie eine vom Sommer übrig gebliebene Mücke um meinen Kopf schwirrt. Während meine Augen die Zimmerdecke und Wände nach einem kleinen schwarzen und beweglichen Punkt absuchen denke ich: Was hat sich der liebe Gott eigentlich gedacht, als er diese kleinen fiesen Biester erschaffen hat?
Endlich habe ich das Objekt der Begierde am Fensterrahmen entdeckt. Dort sitzt es nun und schaut schon ziemlich kläglich aus: etwas ramponiert, ein hinteres Bein steht im merkwürdigen Winkel ab. Gestochen wurde ich von der Mücke in den letzten zwei Nächten auch nicht mehr. Wahrscheinlich ist sie schon am Ende ihrer Kräfte und ihres Lebens angekommen. Und so fährt meine Hand nicht klatschend auf das Tierchen nieder, sondern schiebt es vorsichtig auf ein Stück Papier und entlässt es durch das geöffnete Fenster zum Sterben in die kühle Nachtluft hinaus. Ich habe eine Stechmücke in die Freiheit entlassen! – Ist das der Anfang einer realitätsfernen Senilität, die einen im Alter ergreift?
Mir fällt ein Abendlied aus meiner Kindheit ein: „Weißt du, wie viel Mücklein spielen in der heißen Sonnenglut … Gott, der Herr rief sie beim Namen, dass sie alle ins Leben kamen …“
Und mir fällt noch ein Lied ein, – eigentlich ist es eher ein Gebet: der Sonnengesang des heiligen Franziskus, dessen Festtag wir in diesem Monat am vierten Oktober feiern.
Mit dem heiligen Franziskus verbinden viele einen Öko-Heiligen, – eine Art Klima-Aktivisten, der die Wesen und Elemente der Schöpfung als seine Brüder und Schwestern betrachtete, den Vögeln predigte und mit den Tieren und Pflanzen sprach.
Ist das nur Legende oder war er wirklich so eine Art liebenswerter Spinner?
Giovanni Bernadone, so war sein italienischer Name, lebte im 13. Jahrhundert in Umbrien in Assisi. Erst später bekam er den Namen Franziskus, weil sein Vater ein Frankreichliebhaber war. Als Sohn eines reichen Tuchhändlers genoss er Bildung, Wohlstand und eine sorglose Jugend. Er war für einen ausschweifenden und dekadenten Lebensstil bekannt. Seine exzessiven Partys galten nicht nur in seinem großen Freundeskreis als legendär.
Eine vielversprechende Laufbahn als Soldat lag vor ihm, als er in den Krieg gegen die Nachbarstadt aufbrach. Doch diese Euphorie endete schon bald im Gefängnis. Die harte Zeit im Kerker löste bei ihm die Frage nach einem sinnerfüllten Leben aus. Er erkannte, dass ihm Reichtum, Macht und politischer Einfluss keine wirklich befriedigende Perspektive boten.
Aus seiner Gefangenschaft entlassen, änderte er sein Leben radikal: Er sagte sich los von seinem Elternhaus und allem Reichtum und führte fortan ein Leben in Armut und Zurückgezogenheit. In dieser Zeit begann auch seine Beziehung zu Gott zu wachsen, die ihn tief prägte. Er liebte die Einfachheit, fühlte sich zu denen hingezogen, die am Rande der Gesellschaft standen und war tief berührt vom Reichtum der Schöpfung.
Den Sonnengesang verfasste er nicht an einem sonnigen Frühlingstag in romantischer Stimmung, sondern als er todkrank in einer Hütte auf Strohmatten lag. Es ist ein Gebet, das hervorbrach aus Krankheit und Not.
Etwa 30 Jahre später schreibt der große Theologe Bonaventura von Bagnoregio in seinem Pilgerbuch: Die ganze Schöpfung ist eine Leiter, um zu Gott aufzusteigen. Und so wird auch verständlich, dass Franziskus im letzten Vers seines Gebetes sogar den Tod als seinen freundlichen Bruder willkommen heißt.
Der Sonnengesang ist ein zeitloser Text, der bis heute nicht an Aktualität verloren hat. Wer die Erde als Mutter, die Sonne, den Mond, die Sterne, Pflanzen und Tiere, – ja sogar den kleinsten Wurm als Bruder und Schwester betrachtet, der lebt aus einer Haltung der geschwisterlichen Verbundenheit mit allen Wesen und Dingen. Der weiß, dass alles in der Schöpfung aufeinander angewiesen ist. Alle Wesen und Elemente der Schöpfung brauchen einander. Sie gehören zusammen, sie sind füreinander gemacht. Kein Geschöpf ist wichtiger als das andere oder hat das Recht über ein anderes zu bestimmen und zu herrschen.
Wir haben das schon lange vergessen. Wir haben die Ehrfurcht vor dem Leben und dem Heiligen verlernt. Vielleicht wollen wir auch nichts davon wissen und hören, weil es uns in unserer Freiheit und Bequemlichkeit, in unserem Wohlstand und Luxus einschränken würde.
Mit der Gier nach eigenem Wohlergehen beuten wir nicht nur unsere Mutter Erde aus, sondern auch unsere Menschengeschwister in den armen Ländern dieser Welt. Wir leben auf ihre Kosten und über unsere Verhältnisse.
Die Konsequenzen sind schon längst spürbar: Klimakatastrophen, Kriege um Erdressourcen und Ströme von Wirtschaftsflüchtlingen brechen immer gewaltiger über uns herein. Wir können diese Entwicklung nicht mehr rückgängig machen. Viel zu lange und hemmungslos haben wir unsere Grenzen überschritten. Aber wir können versuchen, den Wahnsinn anzuhalten und nicht noch weiter zu treiben.
Und machen wir uns da nichts vor: Wege, die Umwelt zu entlasten und die Menschen dieser Welt gleichberechtigt und fair zu behandeln, ohne dabei unseren Wohlstand zu beschneiden, wird es nicht geben. Wir werden auf Manches verzichten müssen. Wir werden uns hier und da einschränken müssen, wenn wir wirklich wollen, dass alle etwas vom großen Kuchen dieser Schöpfung bekommen sollen. Und das geht nur, wenn wir vom hohen Ross der Machbarkeit herabsteigen und uns auf Augenhöhe begegnen: mit unseren Schwestern und Brüdern dieser Welt, mit allen Geschöpfen und Dingen des Universums.
Lassen wir uns nicht abhalten mit dem Gedanken, dass wir allein nichts ausrichten können. Gehen wir einfach mutig kleine Schritte: das Auto öfter mal stehen lassen und mit dem Fahrrad ins Büro fahren; sich das Brot in den mitgebrachten Stoffbeutel einpacken lassen; regionale und saisonale Produkte auf dem Wochenmarkt einkaufen; an meinen Talenten und Begabungen andere teilhaben lassen …
Und wenn Sie nun sagen: Das alles mache ich doch schon!, – dann ist das klasse!
Und dann ist es Ansporn zu überlegen, welchen weiteren Schritt Sie setzen können.
Es gibt so viele Möglichkeiten, einen Beitrag zu leisten, damit wir alle zusammen noch lange auf diesem Planeten in Fülle leben können. Gehen wir es an, – auch für Bruder Wurm und Schwester Mücke!
Bleiben Sie behütet!
Ihre Gisela Fritsche
Dekanatsreferentin