
„Das Jahr steht auf der Höhe, die große Waage ruht.“, – so singen wir in diesen Tagen rund um die Sommersonnenwende am 21. Juni. Diese Zeile gehört zu einem Kirchenlied, das zum ersten Mal 1978 veröffentlicht wurde. Es stammt aus der Feder des evangelischen Pfarrers Detlev Block. Überschrieben hat er es mit dem Titel: „Ein Lied zum Mittsommer“.
Wenn wir Mittsommer hören, dann denken wir vielleicht an ein ausgelassenes Feiern, so wie es bei unseren skandinavischen Nachbarn der Brauch ist. Um so überraschender ist es, dass dieses Lied mit dem Bild der ruhenden Waage von Still-Stehen und Zur-Ruhe-Kommen erzählt. Es geht um das Innehalten am Höhepunkt des Jahres.
Wer schon mal einen Berg bestiegen hat, der kann nachempfinden, wie es sich anfühlt, wenn man oben auf dem Gipfel steht. Die Anstrengung des Aufstiegs ist geschafft und nun gilt es, sich niederzulassen, den Blick in die Weite schweifen zu lassen und die Stille zu spüren. Bevor es Schritt für Schritt wieder abwärts in Tal geht, erstmal zur Ruhe kommen und einen Moment lang einfach nur da sein.
Aus dem Abstand der Höhe betrachtet, erkennt man die Steine, Wurzeln, Pfützen und Hindernisse nicht mehr, die den Weg so mühsam gemacht haben. Von hier oben sieht man die gesamte lange Strecke, die man geschafft hat. Und das macht stolz und glücklich. Vielleicht entdeckt man aber auch, wo man falsch abgebogen und einen Umweg gegangen ist oder welche schönen Überraschungen am Wegesrand unter der Mühe des Aufstiegs gar nicht wahrgenommen wurden.
Der Blick vom Gipfel schafft aber auch Sicht auf den bevorstehenden Abstieg: Gibt es noch andere Routen, die sich für den Rückweg anbieten, – vielleicht angenehmer, spannender oder weniger gefährlich? An welchen Stellen könnte es sich lohnen, etwas zu verweilen? Wo lockt mich meine Neugierde hin?
Eine solche Gipfel-Sicht schafft Orientierung und Klärung. Kopf und Seele werden freigepustet und ein innerer Friede stellt sich ein. Die Waagschalen zwischen Aufstieg und Abstieg haben ihre Balance gefunden und sind zu Ruhe gekommen.
Wenn das Jahr in den letzten Juni-Tagen seinen Höhepunkt erreicht hat, könnten wir dies zum Anlass nehmen, auch einmal innezuhalten und mit einem wertschätzenden Blick zurückzuschauen auf die erste Jahreshälfte: Was ist gelungen? Was erfüllt mich mit Freude und Glück? Und was ist noch offengeblieben und möchte zu Ende gebracht werden?
Und gleichzeitig dürfen wir den Blick nach vorne richten: Was möchte ich in der zweiten Jahreshälfte noch anpacken? Wofür und für wen möchte ich mir Zeit nehmen? Und was möchte ich ändern oder los-lassen?
Ich glaube, es lohnt sich, wenn wir uns in diesen Tagen solchen Fragen einmal in Ruhe zuwenden: bei einem Spaziergang, in einer kleinen Auszeit an einem stillen Ort, allein – mit den eigenen Gedanken oder auch im Gespräch mit einem Freund oder dem Partner, vielleicht auch im Zwiegespräch mit Gott.
„Das Jahr steht auf der Höhe, die große Waage ruht. Nun schenk uns deine Nähe und mach die Mitte gut.“
Ich wünsche uns in diesen Tagen die Erfahrung, dass wir in einer guten Mitte zur Ruhe kommen können und uns dabei von Gott begleitet wissen.
Bleiben Sie behütet!
Ihre Gisela Fritsche
Dekanatsreferentin